Kurzgeschichte: Mond und Alltag

Hallo liebe Lesedetektive,

ich hoffe, ihr hattet ein wunderschönes Weihnachtsfest mit euren Liebsten und wünsche euch gleich einen guten Rutsch. Ich hoffe, ich werde noch in diesem Jahr etwas hochladen können, doch da muss ich mich noch einmal ernsthaft mit der Internetverbindung unterhalten :)

Und bis dahin habe ich eine weitere Kurzgeschichte für euch. Ich hoffe, sie gefällt euch und freue mich auf euer Feedback!

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Mond und Alltag

Fliegen. Er hatte es schon immer geliebt. Früher war er jeden Nachmittag geflogen; ganze Wolkenschlösser hatte er erobert, furchterregende Drachen erschlagen und schöne Prinzessinnen befreit. Viele Auszeichnungen hatte er bekommen für seine Tapferkeit und seine Heldentaten! Jetzt flog er nicht mehr, es war ihm nicht gestattet. Die Mutter zog ihn dann immer wieder herunter. „Alltag ruft“, sagte sie dann immer. Aber er verstand das nicht. Wer war Alltag? Und warum hörte er ihn nicht rufen? Schließlich rief ihn doch seine Mutter wieder herunter. War dann die Mutter Alltag, eine Person in seinem Leben, die den ganzen Tag, also alltäglich, da war? Doch auch in der Schule zogen ihn die Lehrer immer wieder auf den Erdboden und ermahnten ihn, er dürfe nicht fliegen. Auch das geschah jeden Tag. Wie viele Alltage gab es denn nun, fragte er sich? Doch niemand beantwortete ihm seine Fragen. Die Großen Menschen sagten immer nur, er würde es eines Tages verstehen. Aber was nützte es ihm, es eines Tages zu verstehen, wenn er doch jetzt fliegen wollte?
Ein ums andere Mal wurde er wieder heruntergezogen, ob nun von einem oder mehreren Alltagen. Doch in der Nacht hatte er einen Freund. Jemand, der nach ihm rief und die Rufe von Alltag überdeckte. Jemand, der ihn aus der klammernden Umarmung von Alltag befreite und lockend seine Arme nach ihm ausstreckte, als hätte er die Möglichkeit zu entscheiden, ob er mitgehen oder den Alltagen gehorchen und bleiben solle. Zuverlässig stand Mond jeden Abend vor seinem Fenster und schaute zu ihm herein. Mond war kein Alltag, das hatte er schon immer gewusst. Alltag zerrte an ihm, wollte ihn an den Boden kleben. Alltag war schlecht. Mond ermutigte ihn, die Arme auszustrecken und zu fliegen. Mond war gut.
Auch an diesem Abend stand Mond an seinem Fenster und schaute zu ihm herein. Er streckte seine langen, kalten Arme nach ihm aus und lockte ihn mit Wolkenschlössern, furchterregenden Drachen und schönen Prinzessinnen, die nur darauf warteten, von ihm befreit zu werden. Doch er schüttelte den Kopf wie so oft in letzter Zeit und legte sich auf seine Arme, dass sie sich nicht verselbstständigten. Die Mutter würde es nicht erlauben und er wollte sie nicht unglücklich machen. Er könnte es nicht ertragen, ihr enttäuschtes, trauriges Gesicht zu sehen. „Aber du müsstest sie nicht sehen“, wisperte Mond, „komm mit mir und du würdest gar nicht merken wie sie um dich trauert. Ich pflanze dir eine riesige Hecke um dein Schloss und dann kann niemand herein- oder hinausschauen.“ Das hielt er für eine gute Idee und streckte seine kleinen Arme aus. Behutsam schlang Mond seine kalten Arme um ihn und zog ihn aus seinem Bett.
In der kühlen Nachtluft dann spreizte er seine Arme aus und der Wind trug ihn. Höher und höher ging es und ihm war, als sei nicht eine Minute vergangen seit seinem letzten Flug. Er atmete tief ein und aus und hörte Alltag brüllen vor Wut, als seine letzten Fesseln von ihm rissen.
Er erlebte viele Abenteuer und Mond zeigte ihm die prächtigsten Wolkenschlösser, bewacht von den furchterregendsten Drachen. Viele Auszeichnungen bekam er für seine Tapferkeit und seine Heldentaten! Die Mutter, so erzählte ihm Mond, habe sein Fehlen gar nicht bemerkt und sei demnach gar nicht enttäuscht von ihm. Das freute ihn sehr und reinen Gewissens eroberte er weiterhin Wolkenschlösser und erschlug schreckliche Drachen.
Doch eines Tages, als er mit einem besonders schrecklichen Drachen kämpfte, rutschte er unglücklich aus und fiel auf sein Knie, das sofort zu bluten anfing. Er weinte bitterlich und rief nach der Mutter. Doch die konnte ihn natürlich nicht hören, denn der Drache hatte ihn in das oberste Turmzimmer gelockt. Er rief nach Mond, doch seine Zeit war noch nicht gekommen. Er stand erst am Anfang seines Himmelsweges. Die Sonne aber, die Freundin von Mond, hörte sein Wehklagen und tötete sogleich den schrecklichen Drachen. Vorsichtig trug sie ihn auf ihren warmen, schützenden Armen zurück in sein Schlosszimmer, das von dichten, dornigen Ranken umgeben war. Doch die Sonne verschwand sogleich, ihre Zeit war bereits um.
Und was nun mit dem blutigen Knie? Er wusste, dass die Mutter immer ein Pflaster darauf klebte, wenn er es sich beim Spielen aufgeschlagen hatte, aber er selbst wusste nicht, wie er das anstellen sollte. Er vermisste die Mutter, er brauchte sie! Da wehte wie von Zauberhand eine Ranke beiseite und gab einen Blick auf die Mutter frei. Neugierig trat er näher heran und erschrak: Einsam saß sie zusammengekauert an seinem alten Bett, als laste Schweres auf ihr. Eine einzige Träne rollte ihre Wange hinunter und fiel auf sein Bett. Das hatte er ihr angetan, dachte er und schauderte. Mit einem Ruck zog er die ganze Ranke von seinem Fenster, sprang heraus und flog schnell zu der Mutter. Sie nahm ihn auf ihren Schoß und er kuschelte sich an ihre Brust. Vorsichtig strich sie ihm über den Kopf und klebte ihm noch ein Pflaster auf das aufgeschrammte Knie.


Behutsam schlang Alltag seine Fesseln um ihn und legte ihn in sein Bett. Er schloss die Augen und hörte Mond brüllen vor Wut, als seine kalten, langen Arme ihn nicht mehr erreichen konnten. Fliegen. Er hatte es schon immer geliebt.

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